Pressemitteilung


10.2.–16.4.2023
Pressetermin: Mittwoch, 8. Februar 2023, 11 Uhr
Eröffnung: Donnerstag, 9.2.2023, 19 Uhr

Ausstellung

Ilse Garnier

a e i o u

Ab Februar 2023 präsentiert der Badische Kunstverein die erste umfassende Einzelausstellung der Künstlerin und Poetin Ilse Garnier in Deutschland (1927, Kaiserslautern – 2020, Amiens). Sie gilt als eine der bedeutendsten Vertreterinnen der Akustischen, Visuellen und Konkreten Literatur und Kunst. Die Ausstellung zeigt Arbeiten aus dem über 50jährigen Schaffen dieser wegweisenden Künstlerin, die sich auch zeitlebens für die Sichtbarmachung von Autorinnen einsetzte.

Seit den 1950er Jahren arbeitete Ilse Garnier auch gemeinsam mit ihrem Mann Pierre Garnier, beide waren durch die Erlebnisse des 2. Weltkriegs geprägt und suchten nach einer experimentellen, visuellen Sprache, die einer offenen und supranationalen Gesellschaft gerecht würde. Ihr Werk steht dabei ganz im Zeichen der Selbsterkenntnis und des Wirkens für eine friedliche, menschliche und solidarische Gesellschaft. Die politische Dimension im Werk der Garniers zeigt darin deutliche Parallelen mit der Entwicklung der Konkreten Poesie in Deutschland, Österreich oder der ehemaligen Tschechoslowakei sowie der Visuellen Poesie in Italien, Spanien, England, den USA, Brasilien und Japan.

Anfang der 1960er Jahre entwarfen Ilse und Pierre Garnier das Konzept der Spatialen Poesie (poésie spatiale) als Ausdrucksform, in der Sprache zum Material wird und der Raum in der Fläche den Text strukturiert: Das Wort wird aus dem Satz befreit und die Sprache aus einem linearen Ablauf herausgelöst. So entsteht eine neue poetische Landschaft, die zur Reflektion und Meditation einlädt. Die Spatiale Poesie war eine radikale Erweiterung der Konkreten Poesie, da sie die Materialität und räumliche Gestalt von Sprach- und Textzeichen in den Vordergrund stellte und damit auch visuell gänzlich neue Wege beschritt. Ilse Garnier entwickelte in diesem Zusammenhang neue Wortfiguren wie die ‚Kurve‘ oder die ‚Parabel‘, die sich über das Blatt als Passage in einen unbegrenzten Raum fortführen ließen. So wird etwa der Buchstabe „i“ aus ‚lumière‘ und ,nuit‘ als hellster Vokal zum Symbol für die Bewegung des Lichts im Raum.

In den 1960ern wurden die tradierten Genres der Kunst revolutioniert und der Weltraum erforscht; es entstanden die Elektro-Akustische und Konkrete Musik. Ilse und Pierre Garniers Werk ist eng mit diesen Entwicklungen verknüpft, auch ihre Poesie wurde technischer: Sie erfanden Schreibmaschinengedichte als mechanische Gedichte (1965). Sprache wurde auf Mikroebene gedacht und das Spiel mit Überlagerungen, lesbaren und unlesbaren Worten, Licht und Schatten oder minimalen Verschiebungen der Abstände führte zu einer vollkommen neuen Dynamisierung von Text und Form. Zunächst schrieb Ilse Garnier ausschließlich in Französisch, das sie als vokalische Sprache und durch die Akzente visuell inspirierte. In späteren Arbeiten wählte sie die deutsche Sprache. Die Polyphonie, die aus diesem Spiel mit Vokalen und Sprachwechseln entsteht, ist für die Ausstellung von besonderem Interesse und zeigt sich auch im Titel a e i o u.

Im Kunstverein werden zentrale Arbeiten aus den 1960er, 70er und 80er Jahren präsentiert. Neben der großformatigen Arbeit Fensterbilder (1983), die als eine Art Stundenbuch den Blick aus dem Fenster auf 24 Stunden eines Tages mit all seinen Ereignissen eröffnen, sind weitere wegweisende Arbeiten wie Quartett, ein Zahlentext (1985), Winterlandschaft mit Vögeln (1996) oder Das einfache Leben des Jens Sörensen Wand auf der Hallig und in Husum (1985) zu sehen. Auch die im letzten Jahr auf der Venedig Biennale gezeigte Arbeit Blason du corps féminin (1979) ist ein für die Ausstellung wegweisendes Werk, in dem sich Ilse Garnier mit der poetischen Kraft des weiblichen Körpers auseinandersetzt und diese dem patriarchalischen System gegenüberstellt. Auf jeder Seite werden die speziellen Eigenschaften des weiblichen Körpers anhand von Buchstaben, Linien und geometrischen Formen dargestellt. Die Entwürfe für ein Hüpfspiel und das Puzzle-Alphabet (1988) verdeutlichen Garniers direkte Aufforderung, mit den Buchstaben nach dem Zufallsprinzip spielerisch zu experimentieren und sich eine eigene Poesie räumlich und physisch zu erschließen.

Ilse Garnier lebte und arbeitete als Schriftstellerin, Künstlerin und Übersetzerin bis zuletzt in Amiens und Paris, Frankreich. Sie studierte Germanistik und Romanistik in Mainz und Paris. Zusammen mit ihrem Mann Pierre Garnier veröffentlichte sie diverse Künstlerbücher, Mappen, Übersetzungen und Essays. Zu sehen war sie u.a. mit der Ausstellung P. et I. Garnier. Le Spatialisme (Stuttgart, 1991) und 2022 auf der Biennale in Venedig.

Die Ausstellung ist der erste Teil einer Reihe von Projekten mit Künstlerinnen der Konkreten Poesie.

Kuratiert von Alex Balgiu und Anja Casser, initiiert mit Andrew Hunt.


Programm

bi (r ds
Von Puzzeln und Alphabeten
Workshop von Studio Latitude
(Calvin Kudufia & Moritz Schottmüller)
Freitag, 3.3.2023, 14–16 Uhr (für Kinder)
Donnerstag, 9.3.2023, 17–21 Uhr
Samstag, 25.3.2023, 11–14 & 15–18 Uhr

Passages—landscape and experience of the concrete poem
Symposium
Freitag, 10.3.2023, 18–20 Uhr
Samstag, 11.3.2023, 11–13 Uhr & 14–17 Uhr

Weitere Informationen zum Programm finden Sie unter "Veranstaltungen".

Kurator:innenführungen
Mittwoch, 1.3.2023, 18 Uhr
mit Anja Casser
Freitag, 10.3.2023, 17 Uhr
mit Alex Balgiu [EN/DE]

Führungen
Mittwoch, 15.2.2023, 18 Uhr
mit Yvonne Fomferra
Mittwoch, 12.4.2023, 18 Uhr
mit Denise Rieflin



Gefördert im Impulsprogramm „Kultur nach Corona“ des Ministeriums für Wissenschaft, Forschung und Kunst Baden-Württemberg (MWK).

Die Workshopreihe bi (r ds wird gefördert von Canson.

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Für weiteres Informations- und Bildmaterial wenden Sie sich bitte an
presse@badischer-kunstverein.de oder rufen Sie uns an unter 0721 28226.

10.2.–16.4.2023
Pressetermin: Mittwoch, 8. Februar 2023, 11 Uhr
Eröffnung: Donnerstag, 9.2.2023, 19 Uhr

Ausstellung

Concrete Experience

Annalisa Alloatti, Mirella Bentivoglio, Irma Blank, Betty Danon, Wanda Gołkowska, Lily Greenham, Ana Hatherly, Liliane Lijn, Mira Schendel, Chima Sunada

„Ich weiß, dass es im Grunde um das folgende Problem geht. Das unmittelbare Leben, das ich erlebe und in dem ich handle, gehört mir allein, ist nicht kommunizierbar und daher ohne Sinn und Zweck. Der Bereich der Symbole, der versucht, dieses Leben zu erfassen (und der auch der Bereich der Sprache ist), ist dagegen lebensfeindlich, in dem Sinne, dass er intersubjektiv ist, geteilt wird und frei von Gefühlen und Leiden ist. Wenn es mir gelänge, diese beiden Bereiche zusammenzubringen, hätte ich den Reichtum der Erfahrung mit der relativen Beständigkeit des Symbols vereint. Mit anderen Worten: Meine Arbeit ist ein Versuch, das Flüchtige zu verewigen und dem Ephemeren einen Sinn zu geben. Dazu muss ich natürlich den Augenblick selbst einfrieren, in dem die Erfahrung mit dem Symbol – in diesem Fall mit dem Wort – verschmilzt.“
Manuscript von Mira Schendel, aus: Luis Pérez-Oramas, León Ferrari and Mira Schendel: „Tangled Alphabets“ (New York: MoMA, 2009)

In enger Verknüpfung mit Ilse Garniers Ausstellung präsentiert Concrete Experience eine Gruppe von Künstlerinnen und Poetinnen der 1960er und 70er Jahre, die auf die sympoietische Beziehung zwischen dem erweiterten konkreten Gedicht und der Erfahrung des wahrnehmenden Körpers aufmerksam machen. Concrete Experience vereint Textarbeiten, Skulpturen, Installationen, Soundaktivierungen, Performances und Konversationen.

Die Auswahl der Arbeiten, die mit Lily Greenhams Musikstück Experience aus dem Album Tendentious Neo-Semantics (1970) klangvoll eröffnet, lädt uns zu einem spielerischen und intermedialen Lesen der Entstehungsgeschichten von Gedichten ein. Andere Werke der Ausstellung lassen die Grenzen zwischen Sinnlichkeit und Bedeutung, zwischen Verbalem und Nonverbalem verschwimmen und können auf ähnliche Weise als Partituren für eine gelebte Poesie gelesen werden: Betty Danons Arbeiten aus der Serie Partitura Asemantica (1973) und Liliane Lijns Neurographs (1971) entwickeln beispielsweise neue und autonome Sprachen, indem sie Strukturelemente und Codes aus dem Bereich der Musik, der Technik und der Wissenschaft übertragen. Liliane Lijns Power Game (1974–fortlaufend) ist eine Performance, die das Glücksspiel nutzt, um die politischen Aspekte von Identität und Macht zu untersuchen. Power Game öffnet das Feld der materiellen Poesie für generative, spielerische und soziopolitische Dimensionen. Das Spiel wird mit einem Deck von Wortkarten gespielt, die poetische Verbindungen schaffen. Es ist eine Einladung an die Spieler:innen, sich mit der Bedeutung von „Macht“ anhand der von ihnen gewählten Wörter auseinanderzusetzen und ihre Entscheidung über diese Auswahl begründen. Im Kunstverein werden die Künstlerin und ein Croupier eine Performance von Power Game inszenieren. Archivmaterial aus der Geschichte von Power Game und Videos von jüngeren Performances sind während der gesamten Dauer der Ausstellung zu sehen.

Unter Erfahrung ist sowohl die Erfahrung der Leser:innen, als auch die der Dichterinnen zu verstehen. So widmet sich Irma Blank (*1934) einer Form des Schreibens, die nichts darstellen möchte, sondern einfach nur ist. Es entsteht eine dynamische Poesie der Präsenz, die in ihrer Geste zwischen Autorin und den Leser:innen widerhallt. Wanda Gołkowskas (1925–2013) Arbeiten sind wiederum von Selbstreflexivität und Aufmerksamkeit geprägt und laden dazu ein, über die Überproduktion und Überfrachtung mit Informationen, die deren Integrität und Authentizität gefährden, nachzudenken. Reflexivität kann auch in der Dokumentation des Entstehungsprozesses eines Gedichts anschaulich werden, in diesem Fall in Mirella Bentivoglios De H a E (1978). In einer Bauwerkstatt wird gezeigt, wie in dem Herstellungsprozess der Buchstabe H zum Buchstaben E wird, sich dabei nicht nur materiell, sondern auch vom Buchstaben zur Sprache verändert.

Weit davon entfernt, ein statisches Objekt in Raum und Zeit zu sein, kann das Gedicht auch als ein fortlaufender Prozess oder als kontinuierliche Gegenwart aufgefasst werden, wie im Fall von Ana Hatherlys Alfabeto estrutural (1967). Dieses Werk besteht aus einer Reihe von neun Durchführungen einer Formveränderung durch die abstrakte, geometrische Motive strukturell wie eine Sprache angeordnet werden. Es ist zugleich ein neues Schreib- und Sprachsystem, das von den Leser:innen über die Grenzen der Arbeit fortgesetzt werden kann. Durch die Praxis der japanischen Shodo-Kalligrafie dekonstruiert und rekonstruiert die Künstlerin Chima Sunada (*1944) Ideogramme und lädt dazu ein, die mehrdeutigen Modifikationen von Bedeutung durch den Akt des Schreibens zu erfahren. Die in Concrete Experience ausgewählten Arbeiten Sunadas offenbaren ihre gestische und spekulative Recherche zu piktografischen Etymologien. Wenn wir das Wissen der Erfahrung und des Kontakts als Berührung und des Berührtwerdens erleben sollen, so bietet Annalisa Alloattis Cecità (1967) eine meditative Reflexion über die Poesie und Materialität der Brailleschrift (internationale Blindenschrift). Für Alloatti ist diese Schrift eine Sprache der Sinne in Beziehung zueinander oder eine bindende Energie des Dazwischen: der Bedeutung, des Visuellen und des Haptischen.

Kuratiert von Alex Balgiu und Anja Casser, initiiert mit Andrew Hunt.


Programm

Passages—landscape and experience of the concrete poem
Symposium
Freitag, 10.3.2023, 18–20 Uhr
Samstag, 11.3.2023, 11–13 Uhr & 14–17 Uhr

Power Game
Live Performance mit Liliane Lijn
Samstag, 11.3.2023, 18 Uhr

Weitere Informationen zum Programm finden Sie unter "Veranstaltungen".

Kurator:innenführungen
Mittwoch, 1.3.2023, 18 Uhr
mit Anja Casser
Freitag, 10.3.2023, 17 Uhr
mit Alex Balgiu [EN/DE]

Führungen
Mittwoch, 15.2.2023, 18 Uhr
mit Yvonne Fomferra
Mittwoch, 12.4.2023, 18 Uhr
mit Denise Rieflin



Der Beitrag von Liliane Lijn wird gefördert vom British Council.

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